
LAUBENHEIM – Dass es sich bis vor wenigen Jahren noch um ein gesellschaftliches Tabuthema gehandelt hat, ist in der Versammlungshalle der AWO schnell vergessen. Nicht umsonst bemerkt der ehemalige Ortsvorsteher Gerhard Strotkötter zu Beginn: „Das ist eine Veranstaltung, zu der sich bestimmt viele nicht trauen zu kommen.“ Gekommen ist dann aber doch eine ganze Menge, wobei das Publikum beim Info-Abend „Medizinisches Cannabis“ – organisiert von AWO und SPD – kein bisschen dem klassischen Kiffer-Klischee entspricht und damit Zeuge davon ist, dass das Thema mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Dafür sprechen auch die ganz unterschiedlichen Hintergründe der drei Vortragenden der Veranstaltung.
Da wäre zum einen die Apothekerin Isabel Schmelzer, die, wie sie erzählt, auch eine Neueinsteigerin im Thema Cannabis ist, nämlich, seit sie in der auf medizinischen Cannabis spezialisierten Ulmen-Apotheke in Drais arbeitet. Dann ist da Robin Bowman, online zugeschaltet, der seit seinem 17. Lebensjahr querschnittsgelähmt und seit vielen Jahren Cannabis-Patient ist. Beim dritten Vortragenden handelt es sich sogar, wie dieser mit kleinem Augenzwinkern erzählt, um einen ehemaligen Kriminellen. Julian Hundt wurde vor einigen Jahren mit einer geringen Menge Cannabis erwischt und musste dafür eine für einen Studenten nicht unbeträchtliche Strafe zahlen. Dieses Erlebnis politisierte ihn damals, sodass er sich heute als Mitglied bei der SPD und dem deutschen Hanfverband für das Thema Cannabis engagiert.
Die erste Hälfte des Abends wird von Isabel Schmelzer präsentiert, die mit ihrem fundierten Fachwissen den inhaltlichen Teil übernimmt. Die Cannabispflanze stammt, wie sie erzählt, ursprünglich aus Zentralasien und wird seit jeher äußerst vielseitig verwendet: für Textilien, als Nahrungsmittel, zur Körperpflege und als Medikament. Diese medizinische Verwendung geht auf etwa 500 unterschiedliche Inhaltsstoffe zurück, von denen etwa 100 sogenannte Cannabinoide sind. Davon sind es wiederum vor allem zwei Cannabinoide, nämlich THC und CBD, die für die berühmte und berüchtigte psychoaktive Wirkung verantwortlich sind. Diese Cannabinoide kommen vor allem in der Blüte der weiblichen Pflanze vor, die daher bevorzugt verwendet wird. Jedoch betont Schmelzer, dass für die einmalige medizinische Wirkung der Pflanze alle 500 Inhaltsstoffe mit völlig unterschiedlichen Wirkungen von Bedeutung sind, sodass sie am besten in Gänze „als Cocktail“ konsumiert wird.
So vielseitig wie der Inhalt der Pflanze, so vielseitig ist auch ihre Verwendung. Zum einen kommt sie bei neurologischen Erkrankungen wie ADHS, Parkinson, Migräne, Tourette oder MS zum Einsatz, genauso aber bei chronischen Schmerzen wie jenen, die von Morbus Crohn oder Colitis Ulcerosa ausgelöst werden, oder Unterleibsschmerzen. Und nicht zuletzt sind es psychische Krankheiten wie Depressionen, PTBS oder Zwangsstörungen, bei denen eine Cannabis-Therapie Linderung schaffen kann.
Und tatsächlich ist die Wirkung dieses rein pflanzlichen Medikaments oft viel versprechender als jene moderner, synthetisch hergestellter Alternativen, zumal es sich bei diesen oft um starke Schmerzmittel wie Morphium mit schweren Nebenwirkungen handelt. Besonders eindrücklich ist das Beispiel eines Mädchens, das, wie Schmelzer erzählt, unter so starkem ADHS leidet, dass es bereits mit acht Jahren Suizidgendanken hatte. Seit es mit Cannabis therapiert wird, habe sich die Situation völlig gewandelt und die Lebensqualität sich um ein Vielfaches verbessert.

Weiteres aus dem Alltag eines Cannabis-Patienten erzählt Robin Bowman. Seine Querschnittslähmung seit einem Motorradunfall wird von einigen Leiden wie einer gestörten Temperaturregelung, Tourrette-Syndrom und Stimmungsschwankungen und Konzentrationsschwierigkeiten begleitet. Cannabis ermöglicht ihm eine Teilhabe am Alltag, die sonst nicht denkbar wäre. Sämtliche Schmerzen werden gelindert, genauso seine Spastiken und der Stress, der von Blasendruck und Temperaturveränderung ausgelöst wird. Ohne Cannabis ist er ständigen Reizen wie Muskelanspannungen, Krämpfen und Nervenschmerzen ausgeliefert, die alle dank seiner Therapie in den Hintergrund rücken. Diese macht sein Leben planbar, gibt ihm mehr Energie und lässt ihn – einfach gesagt – wieder Teil der Gesellschaft sein.
Zum Abschluss weist Julian Hundt noch einmal auf die politische Ebene des Themas hin. Dass Cannabis von der vorigen Bundesregierung legalisiert wurde, sei das Ergebnis von sehr viel politischem Aktivismus. Der Kampf sei jedoch noch lange nicht vorbei. Das bezeuge unter anderem die Tatsache, dass Cannabis auch heute noch als Medikament nur selten von Kassen übernommen wird. Zwar ist es mittlerweile gut möglich, über ein Rezept an medizinischen Cannabis zu kommen, dabei handelt es sich aber fast immer um private Rezepte, die also vom Patienten selbst gezahlt werden müssen.
Ein wichtiger Schritt dabei ist es sicherlich, das Thema aus der Tabuzone in die Mitte der Gesellschaft zu rücken. Dazu leistet eine Veranstaltung wie diese sicherlich einen wichtigen Beitrag. Viele der Gäste im Publikum hatten vor dem Abend wohl kaum Berührungspunkte mit dem Thema und zeigten dennoch großes Interesse an den medizinischen Möglichkeiten von Cannabis. Vor wenigen Jahren noch wären diese im Schatten des schlechten Images der Pflanze völlig verborgen gewesen.
Johannes Preyß