
INGELHEIM/BODENHEIM – „Wie lernt ein Baby sprechen? Durch Hören, Sehen und Nachahmen“, erklärt Heilpädagogin Juliane Werner. „Unsere Bewohner durchlaufen einen ähnlichen Prozess. Wir erwarten am Anfang nichts, sondern zeigen immer wieder die wichtigsten Gebärden. So lernen sie Schritt für Schritt, was ‚Arbeiten‘ oder ‚Essen‘ bedeutet.“
Im Haus St. Martin in Ingelheim entwickelt sich die sogenannte unterstützte Kommunikation (UK) in den vergangenen zwei Jahren zu einem zentralen Baustein in der Betreuung. Mit der Spende von 5.000 Euro haben die Kulturfrauen Bodenheim den Auf- und Ausbau entscheidend mitgeprägt. Von den Geldern wurden Tablets, Kommunikationsmappen, Bildkarten, Taster und ein elektronisches Musikgerät angeschafft.
„Das ist ein ganz, ganz wichtiges Projekt“, sagt Vereinsvorsitzende Anne Jaeger bei der Präsentation der Anschaffungen. Im Haus St. Martin leben Kinder und Jugendliche mit schweren Mehrfachbehinderungen, viele von Geburt an. Manche Bewohner haben ihre Kommunikationsfähigkeit durch Unfälle oder Krankheiten eingebüßt.
„Unterstützte Kommunikation heißt für uns, Brücken zu bauen – mit Gesten, Symbolen oder technischen Hilfen“, erläutert Werner. Die wichtigste Voraussetzung, auf der sie beruht, und vielleicht auch die prägende Erkenntnis, ist das Bewusstwerden des eigenen Ichs und eines Gegenübers, an den sich die Mitteilungen richten, erläutert Werner. Letztendlich geht es um die Selbstbestimmung.
Die Gebärden, die im Haus verwendet werden, stammen nicht aus der komplexen deutschen Gebärdensprache. „Wir nutzen lautsprachunterstützende Gebärden. Das heißt, wir sprechen einen Satz, aber wir gebärden nur das Wesentliche – ‚Arbeiten‘, ‚Trinken‘, ‚Mehr‘. Das ist leichter zu verstehen und motorisch besser machbar.“ Auch die Bildkarten und die Tablets spielen eine wichtige Rolle.
„In unserem Symbolsystem gibt es mehr als 17.000 Bilder“, berichtet die Heilpädagogin. „Wir beginnen mit den 100 wichtigsten Wörtern – ‚an‘, ‚aus‘, ‚mehr‘, ‚nicht‘ – und erweitern nach Bedarf.“ Mit Hilfe der Geräte können die Bewohner mitteilen, ob sie hungrig sind, ob ihnen etwas wehtut oder was sie in der Schule erlebt haben.
Eindrucksvoll zeigt sich der Lernfortschritt bei Momo, einem jungen Bewohner, der kognitiv fit ist, aber nur eingeschränkt sprechen und seinen Arm grobmotorisch bewegen kann. „Momo hat mit einem einfachen Taster angefangen, der ein Licht an- und ausmacht“, erzählt Werner. „Inzwischen versucht er, über farbige Taster die Musik zu steuern.“
Beispielsweise spielt Momo in der Band mit, die nicht nur ein Freizeitangebot ist, sondern auch ein Übungsfeld für Teilhabe. „Momo hat gelernt, dass er mit einer Handlung – Licht einschalten, einen Ton auslösen – eine Reaktion bekommt. Das ist Kommunikation pur“, betont Werner. „Es macht ihm Spaß, die anderen zu steuern, zu überraschen oder zu animieren.“
„Ob es um Musik, um Alltagsaufgaben oder um Pflege geht: UK bedeutet, dass jeder Bewohner mitteilen kann, was er möchte“, erklärt Einrichtungsleiter Daniel Krudewig. Im Haus St. Martin werde freilich das Pflegepersonal in dem neuen Bereich an die Hand genommen. Die Spende hat entsprechende Schulungen möglich gemacht.
„Wir möchten unseren Bewohnern zeigen: Du wirst gehört, auch wenn du keine Worte hast“, kommentiert Werner. Die Kulturfrauen zeigten sich während der Vorführung beeindruckt, wie kreativ im Haus gearbeitet wird. „Wir haben viele Projekte unterstützt, aber hier spürt man sofort, wie sinnvoll jeder Euro eingesetzt ist“, betont Jaeger. „Es ist ein gutes Gefühl, dass unsere Spende dazu beiträgt, Leben zu verändern.“