Start Allgemein Das neue Objekt der Begierde Erfahrungen mit einem (fehlenden) Hygieneartikel

Das neue Objekt der Begierde Erfahrungen mit einem (fehlenden) Hygieneartikel

Das Gesicht der Krise

Ja, ich bin von der Rolle. Oder um es genauer zu sagen: von der Toilettenpapierrolle. Zumindest bin ich kurz davor. Denn langsam aber sicher, Blatt für Blatt, geht bei mir zuhause genau dieses Produkt zur Neige. Noch bis vor kurzem hieß es in einem solchen Fall auf dem Weg zum Einkaufen lapidar „denk an das Klopapier“. Im Augenblick jedoch denk ich kaum noch an was anderes. Denn dieser so lange in seiner lebenswichtigen Bedeutung arg vernachlässigte Hygieneartikel ist einfach nicht zu bekommen: Nicht im Supermarkt meines Vertrauens, nicht beim Wettbewerber nebenan und auch nicht im großen Drogeriemarkt auf der grünen Wiese. Überall weg, alle, ausverkauft!

Jeden Morgen stürme ich nun erwartungsvoll in die Läden, vorbei an leeren Nudel- und Konservenregalen, und jeden Morgen die gleiche Enttäuschung: kein Klopapier. Okay, wenn ich schon einmal da bin, könnte ich ja vorsichtshalber gleich ein paar Kilo Mehl mitnehmen, zwei Kartons Kartoffelchips und 50 Liter haltbare Milch. Aber nein, Hamsterkäufe sind ja laut Aussage einer ehemaligen Weinkönigin nicht von Nöten. Wobei? Mit einem bisschen Neid erinnere ich mich an vergangene Tage, wo ich Horden von besorgten Mitbürgern beobachten konnte, die ihre Kombis und SUVs bis unters Dach mit Konserven, Tiefkühlkost und eben vor allem Toilettenpapier beladen haben. Unsolidarisches, ja sogar asoziales Verhalten, sagt der moralische Teil meiner  inneren Stimme heute. Stimmt, aber sie haben, was du so dringend benötigst, meldet sich der pragmatische Teil.

Nicht zufällig erinnere ich mich in diesem Augenblick an die alten Erzählungen meiner Eltern und Großeltern aus der Nachkriegszeit. Als verzweifelte Menschen ihr letztes Hab und Gut auf die Schwarzmärkte trugen, um ein paar rar gewordene Produkte zu ergattern.

Wird es wieder so weit kommen, entsteht ein Schwarzmarkt für Klopapier? Und was hätte ich zu tauschen? Meine Aktien, ursprünglich einmal für die Altersvorsorge gedacht, sind seit dem aktuellen Börsencrash kaum noch etwas wert. Und meine wenigen Barreserven werde ich dank fehlender Verdienstmöglichkeiten in der Coronakrise wohl in nächster Zeit eher für Wasser und Brot benötigen. Shit, ich hätte nie gedacht, dass Klopapier einmal eine so wichtige Rolle in meinem Leben spielt.

Michael Türk

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Vor, während und nach dem Studium der Politischen Wissenschaften an der Universität Hamburg konnte ich erste journalistische Erfahrung bei diversen Medien in Kiel (meinem Geburtsort) und Hamburg sammeln. Anschließend ging es dann für gut 30 Jahre in die Werbung, zuerst als Texter und dann als Creative Director und GF Kreation, in verschiedenen nationalen und internationalen Werbeagenturen. Vor etwa zwei Jahren schließlich der Schritt zurück zu den Wurzeln, der journalistischen Arbeit: seitdem verantworte ich beim Journal LOKAL die Ausgaben VG Bodenheim und VG Rhein-Selz sowie die meisten Sonderveröffentlichungen.