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Demokratie erleben, spüren, bewahren Zukunftsrelevant >>>Das Open Ohr Festival: Ein Ort für Haltung und Hoffnung

Das Publikum konnte es nicht lassen: Valentino Vivace mischte Italo-Disco, French-Touch und Indie-Pop zu einem unwiderstehlichen Tanzsound. Foto: Gregor Starosczyk-Gerlach

MAINZ – Sie ist labil – und das nicht erst seit sich die Gesellschaften in vielen Ländern nach Rechts bewegen. Doch immer deutlicher rückt den Menschen vor Augen, dass Demokratie ein äußerst fragiles Säulengefüge ist, das die Gesellschaft trägt. Ein Gegengewicht, ein Hort für Erziehung, Herausbildung, Förderung und Pflege ist das viertägige Open Ohr Festival von Mainz.

Wie auf einem Feld profiliert es sich seit einem halben Jahrhundert und ermöglicht den Menschen den Austausch über die Freiheit, die Gesellschaftsform und die Bildung.

Bei der 51. Ausgabe auf der Mainzer Zitadelle – sinnbildlich ein offenes Bollwerk mit stabilen Mauern – verflochten die Organisatoren wieder Musik, Film, Kunst, Diskussionen und kleine Protestaktionen ineinander. So zog am Sonntagmittag eine Gruppe Jugendlicher, eher noch Kinder, über das Gelände und rief den Erwachsenen entgegen: „Ihr raubt uns unsere Zukunft!“ – eine Anlehnung an Fridays for Future, die wachrütteln sollte.

„Il Grande Spettacolo della Fine del Mondo“ vom Theatre En Vol am Sonntagabend.
Foto: Gregor Starosczyk-Gerlach

Es war eine Randerscheinung, aber eine eindrucksvolle. Sie ließ gar eine Diskussion im benachbarten Zelt verstummen – laut, unbequem, aber ein Beispiel dafür, wie politische Bildung zum mündigen Bürger möglich wird. Freie Meinungsäußerung ist eine der tragenden Säulen der Demokratie – hier wurde sie gelebt, wie aus einem ABC-Regelwerk durchbuchstabiert.

Zum Festival gehörten aber auch größere Debatten: etwa über die Rolle der Medien, die in Gesprächen thematisiert wurde. Filme erlaubten Blicke in die Vergangenheit, während die Musik und das Chillen den Moment feierten. Die Freude an der Freiheit war ein gern gelebter Programmpunkt.

Tanz und Musik verschiedener Bands, Statements gegen Gewalt und Repression, aber auch Wertschätzung für den Raum, in dem der Mensch lebt: die Natur, fanden ihren Platz. Besonders eindrücklich war das barfüßige Gehen über Wiese und Gelände – eine physische Verbindung zur Erde. „Zieh deine Schuhe aus, dann spürst du, was dich trägt“, könnte der Beobachter aus der Geste entnehmen. „Wenn die Erde nicht mehr da ist oder brennt, kannst du das nicht mehr tun.“

Am Pfingstsonntag, dem besucherstärksten Tag, war vor allem Platz zum Feiern. Und kurioserweise spielte das Wetter auch vorher schon mit – während ganz Mainz am Tag davor unter Wassermassen litt, blieb die Zitadelle weitgehend verschont. Ein Zufall – ja. Aber auch ein Hinweis darauf, wie wechselseitig das Verhältnis zwischen Mensch und Natur ist – sein muss, wenn die Spezies die Welt der nächsten Generation als lebenswerten Ort hinterlassen will. Solch düstere Mahnung war auch Thema des Theaterstücks am Sonntagabend, des „Il Grande Spettacolo della Fine del Mondo“ vom Theatre En Vol. Die Inszenierung vom Ende der Welt lief in absoluter Dunkelheit – beleuchtet blieb nur die Szene des Geschehens selbst.

Viele sicherten sich beim Festival das Buch, das im letzten Jahr erschienen war und die 50 Jahre Festivalgeschichte in Bildern, Zitaten, Rückblicken zusammenfasste.

Zahlreiche Besucher waren erneut dabei – viele kommen seit Jahrzehnten. Manche denken schon im März an das nächste Festival. Für sie sind die vier Tage eine Art Heimat geworden – so eine spontane Äußerung. Ein weiterer Teilnehmer brachte die Atmosphäre auf den Punkt: „Es ist ein friedlicher Ort. Hier wird vieles toleriert – auch die Pseudotoleranz.“

Band Bikini Beach.
Foto: Gregor Starosczyk-Gerlach

Am Sonntagabend – und besonders beim Konzert der französischen Band am Pfingstmontag – lag ein Hauch von Wehmut in der Luft. Das Ende des Festivals rückte näher, und mit ihm der Wunsch: Möge dieses Festival, das mit so viel ehrenamtlicher Energie gestemmt wird, weiter bestehen. Dieser Wunsch war spürbar – im Tanzen, in den Abschiedsgrüßen.

Und in der Gestalt der Kinder, die mit ihren Eltern das Gelände bevölkerten. „Schaut euch die Kleinen an“, sagte der Sänger Gringo Mayer. „Schaut euch die Großen, die Kleinen, die Dünnen und die Dicken wie mich an – für sie wollen wir noch in tausend Jahren das friedliche Miteinander feiern.“ – Angesichts der brüchigen Gegenwart nahmen den Wunsch vermutlich viele mit. Und vielleicht werden sie in ihren kleinen Alltagsbereichen dafür eintreten, dass es sich lohnt, Demokratie wie einen Muskel zu trainieren – jeden Tag.

Der Einsatz ist hoch. Aber auch das Ergebnis: eine freie, friedliche Welt. Es lohnt die Anstrengung.

 

Gregor Starosczyk-Gerlach