KASTEL – Zu den akribischen Recherchen des Heimatforschers Klaus Lehne gehört auch der Rückblick zur unfassbaren Nazi-Zeit für die nachfolgenden Generationen. Aus dem Hitler-Regime wurde gottlob statt eines „1000-jährigen Reiches“ nur eine erbarmungslose zwölfjährige Diktatur mit Schrecken, Angst und Tod als Epoche.
Die Jahre 1933-1945 wurden demonstriert mit Hakenkreuzfahnen, Führerreden, Aufmärschen, Jubel mit fatalen Folgen: Ruinen, Chaos, Asche und Tote! Mit einem verlogenen Feldzug wurde zunächst der Beifall des Volkes erobert, was den Hass der ganzen Welt auslöste. Maßgebliche Ämter wurden mit „alten Kämpfern“ besetzt. Intensive nationalsozialistische Schulungen wurden mit schamloser Überzeugungskraft vorgenommen.
Der 1. Mai der „Tag der deutschen Arbeit“ wurde mit aufwendigen Propagandamitteln auf dem „Bäckerplätzje“ und später auf dem Borussia-Sportplatz in Kastel, mitten in der ehemaligen „Glacis“ gefeiert. Im einstigen „Bären“ (Bahnhofshotel) wurde mit großem Personalkult „brauner Herrlichkeit“ propagandistisch gehuldigt. Ab dem 18. Lebensjahr wurden auch junge Kasteler „automatisch“ in die NSDAP aus der Hitlerjugend überführt.
Im Schulhof der heutigen Gustav-Stresemann-Schule erfolgte jeweils der „Festakt“. Die NS-Zeiten waren geprägt von ständigen Sammlungen der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) und der Stech-Schritt der NS-Organisationen, die durch die Ortsgruppe der NSDAP in Kastel gelenkt und geleitet wurden. In der grausamen „Kristallnacht“ auch „Reichs-Progromnacht“ vom 9. zum 10 November 1938 demolierten SA-Männer brutal die Wohnungen der wenigen Juden in Kastel.
Auch Deportationen zu Konzentrationslagern (KZ) fanden in Kastel statt. Eine Wohnung in der Eleonorenstraße 16 war das Zuhause des Chemiefabrikanten Dr. Julius Thilo, der im Februar 1942 inhaftiert und in Auschwitz ermordet wurde. In den Jahren 1937/38 wurde die Aufrüstung der NS-Diktatur vorgenommen. Dazu zählte auch die Rodung des Kasteler Waldes, im Volksmund genannt: „Glacis“ (bewaldete Festung aus der Franzosenzeit).
Auch die restlichen Fortanlagen wurden gesprengt und alles für den Bau des riesigen Heereszeugamts eingeebnet, gelegen an der Straße „In der Witz“. Auch das Heeresbekleidungsamt am Philippsring diente gegen Ende des „Zweiten Weltkriegs“ 1944/1945 als Verladestation für Eisenbahntransporte des Nachschubs an der „Deutschen Westfront“ in Frankreich. Die Westfront entstand im Jahre 1944 durch die Landung der Westalliierten in der Normandie, gefolgt von der Befreiung des besetzten Frankreichs und Belgien.
Diese Heeresbauten waren auch die Ursache und Folge für die Bombenteppiche durch die anglo-amerikanischen Luftangriffe, die in 34 Minuten Kastel in eine Kraterlandschaft verwandelten.
Am 8. September 1944 endete das Leid der Kasteler Bevölkerung noch lange nicht. Es folgten weitere Bombenangriffe, bei denen viele Kasteler ihr Leben ließen. Das neue Jahr begann mit weiteren Angriffen. Im März 1945 trat dann eine Veränderung ein, an die sich Kurt Closett, als Zeitzeuge noch gut erinnern kann.
„Man wollte den Amerikanern die Rheinüberquerung erschweren und so wurden durch die deutsche Wehrmacht die Rhein-Brücken gesprengt. Betroffen waren die Straßenbrücke und die Gustav-Adolf-Brücke (Heute Eisenbahn-Südbrücke). Das Kasteler Gefangenen-Lager, worin Russen und Franzosen inhaftiert waren, wurde Ende Februar, als die Amis heranrückten, bereits aufgelöst. Im Gasthof Frankfurter Hof, später Kaiserhof an der Wiesbadener Straße und in der Kostheimer Papierfabrik waren zuvor diese Kriegsgefangenen eingesetzt. Aber in der Nacht zuvor wurde Kastel wieder einmal bombardiert. Bei diesem Bombardement verloren viele Kasteler, aber auch Kriegsgefangene ihr Leben. Die Detonationen waren so heftig, dass die Leute in Erstarrung nicht fähig waren zu reagieren, beziehungsweise sich in Sicherheit zu bringen. Eine riesige Staubwolke legte sich über Kastel, wurde aber durch Westwinde nach Biebrich getrieben. Staub bedeckte die Menschen und stieg von den zerbombten Häusern auf.
Durch die Bomben, die ihr ursprüngliches Ziel verfehlt haben und im Wasser explodierten, wurden viele Fische getötet, die nun an der Oberfläche schwammen. Mit ihren Booten fuhren die Kasteler hinaus auf den Rhein und sammelten die Fische ein. Eine willkommene Ergänzung zu den kargen Lebensmitteln, die sehr spärlich zur Verfügung standen.
Die Bombardierung ging so weit, dass selbst in Biebrich die Menschen evakuiert wurden. Ursache der Evakuierung waren die Gastanks in Mombach und die Angst, dass diese explodieren würden. Die Menschen wurden in die Nähe des Dyckerhoffbruchs gebracht, in die Nähe der Wuthsche-Brauerei, hinter die Dämme der Reichsbahn.
Kurt Closett, der die Bombardierung als achtjähriger Junge erlebt hatte, berichtete noch, dass die Amis eine Pontonbrücke bei Mombach über den Rhein schlugen und von dort auf die rechte Rheinseite kamen. Der zweite Zug Amerikaner kam am Kaisertor über den Rhein. Aber das war dann etwas später.
Am Mainzer Stadtpark hatten die Reste der Wehrmacht mit gefangenen Weißrussen gelagert, wurden dort von der amerikanischen Artillerie beschossen. Eine Bombardierung im Anschluss traf Menschen und Pferde. Die Pferdenahrung in Form von Karotten wurden von den wenigen Überlebenden verzehrt“.
So hatte Toni Kaiser von seinem Opa, dem letzten Kasteler Wasserwärter, erfahren, dass auch das Kasteler Wasserwerk, an der Boelckestraße, unterhalb des Ochsenbrunnenberges, in der Nähe des Ochsenbrunnens 1944 Ziel der Bombenangriffe war. Zum Schutz war im Bereich der heutigen Metro, Kuhtränkeweg, ein Flakstand eingerichtet, an dem 15- und 16-jährige Buben als Flakhelfer verpflichtet waren und ihren Dienst verrichten mussten. Es wurde ein Feldweg befestigt, um diese Flak besser mit Nachschub zu versorgen. Von dieser Flak wurden anfliegende Flugzeuge ins Visier genommen. Die Trümmer eines Abschusses verteilten sich großflächig in der Region. Noch heute werden Trümmerteile von dieser Maschine im Feld gefunden. Letztendlich wurde das Wasserwerk dann doch zerstört. Dampfmaschinen, die die Wasser-Pumpen antrieben, und Maschinenhaus fielen den Bomben zum Opfer und die Versorgung Kastels mit Wasser war nicht mehr möglich.
In den letzten Kriegsjahren wurden Kriegsgefangene in deutschen Betrieben und Bauernhöfen eingesetzt. So auch der Bericht über einen französischen Kriegsgefangenen mit Namen „Carl“ der im Göttelmann-Haus inhaftiert war. Ecke Roonstraße/Zehnthofstraße. Er war zur Hilfe bei einem Kasteler Bauern abkommandiert. Der Bauernhof war Ecke Zehnthofstraße/Schwanengasse. Da der Kriegsgefangene gelernter Koch war, war es naheliegend, dass er für die Großfamilie kochte. Somit war die Bauersfrau entlastet und konnte mit zur Feldarbeit. Als das die Kommandantur der deutschen Wehrmacht erfuhr, untersagte sie der Familie, dass der Franzose weiterhin für sie kochte! Er konnte ja die ganze Familie vergiften, er war ja ein Kriegsfeind!
Die Beaurys setzten sich über den Befehl hinweg und ließen den Koch weiterhin für sie kochen, ja er konnte wie bisher mit am Tisch der Großfamilie sitzen, so kann sich Sylvia Berger noch gut erinnern, die diese Geschichte von Ihrer Mutter erfahren hatte.
Auch die Ackergäule der Beaurys wurden zum „Endsieg“ benötigt und wurden von der deutschen Wehrmacht eingezogen. Da nützte auch der Protest des Bauers nichts. Wie sollte die Ernte eingebracht werden? Beaurys blieb nur die Möglichkeit, selbst mit ihrem Knecht und Kriegsgefangenen die Erntewagen zu ziehen. Als ein deutscher Oberst das sah, meinte er, so könne das nicht weitergehen. Und siehe da, am nächsten Morgen standen zwei Pferde vor den Bauernhof. Aber es waren keine Ackergäule, sondern Reitpferde. Unmöglich diese Pferde zur Ernteeinbringung einzusetzen. So viel zur Kenntnis eines Wehrmachtsobersts zur Landwirtschaft.
Diese Zeitzeugenberichte und viele weitere Berichte werden bei dem monatlich stattfindenden Stammtisch, Kasteler Geschichtcher, durch ältere Kasteler erzählt und durch den Organisator Klaus Lehne aufgeschrieben und in einer Chronik festgehalten.
Herbert Fostel