BODENHEIM – Mit diesem Ansturm hatte der „Buch, Laden Ruthmann“ nicht gerechnet. Die Karten für die Lesung von Uwe Wittstock im Bodenheimer Buchladen waren innerhalb kürzester Zeit vergriffen. Die Enttäuschung der Kunden war so groß, dass ein Plan B hermusste. Buchhändlerin Grit Leoff berichtet: „Die Ortsverwaltung hat uns dann unbürokratisch geholfen und den Kulturkeller zur Verfügung gestellt. So konnten wir wenigstens 135 Kundinnen und Kunden glücklich machen – und die Warteliste war immer noch lang“.
Wittstock, der Passagen aus seinem Bestseller „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“ las, hatte an diesem Abend Peter Arens an seiner Seite. Der Professor und Historiker ist seit 2017 beim ZDF der Leiter der Hauptstadtredaktion Geschichte und Wissenschaft, verantwortlich für Sendungsformate wie Terra X, Terra X History und Leschs Kosmos. Wittstock selbst hat unter anderem in der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Marcel Reich-Ranicki, als Lektor im „S. Fischer Verlag“ und als Literaturredakteur bei der Zeitschrift Focus gearbeitet. Seit 2018 ist er als freier Schriftsteller und Journalist tätig.
Der Abend versprach also, spannend zu werden und die Erwartungen des Publikums weit zu übertreffen. Fast zwei Stunden lang nahmen die Protagonisten die Besucher mit in den Frühsommer 1940, in dem Hitlers Wehrmacht Frankreich besiegt hatte und in den Süden vorrückte.
In jener Zeit fahndet die Gestapo nach Heinrich Mann, Franz Werfel, Hannah Arendt und unzähligen anderen, die seit 1933 in Frankreich Asyl gefunden haben. Die Internierungslager in Frankreich sind voll von deutschen und österreichischen Verfolgten. Für manchen von ihnen, wie Walter Benjamin, ist der Freitod die einzige Lösung. Anschaulich berichtet Wittstock von Anna Seghers, die mit ihren beiden Kindern im Teenageralter zunächst vergeblich versucht, den unbesetzten Teil Frankreichs zu erreichen. Aufwühlend die Passagen, die der Schriftsteller über die Flucht einer fünfköpfigen Gruppe über die Pyrenäen nach Portbou in Spanien verliest. Nick Ball will auf dieser Tour den 69-jährigen Heinrich Mann mit Ehefrau Nelly, den übergewichtigen und herzkranken Franz Werfel mit Ehefrau Alma und Golo Mann, den Sohn von Thomas Mann, in Sicherheit bringen.
Ball ist der unerschrockene Fluchthelfer im Dienst des Amerikaners Varian Fry, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, so vielen deutschen und österreichischen Schriftstellern und Künstlern wie möglich zur Flucht zur verhelfen. 13 Monate lang sorgt Fry von Marseille aus für spektakuläre Aktionen, um die Verfolgten außer Landes zu schmuggeln. Frankreich würdigt seinen heldenhaften Einsatz immerhin mit einer Gedenkplakette und seinem Namen auf dem Klingelschild seiner ehemaligen Wirkungsstätten in Marseille.
Arens würzte die feinfühligen Berichte des Buchautors mit humorvollen Schilderungen einzelner Personen, die den Zuhörern damit lebendig vor Augen geführt wurrden. Er beschriebt zum Beispiel die „barocke“ Alma Mahler-Werfel, die mit einem Dutzend Koffer und Originalpartituren von Mahler und Bruckner auf der Flucht war, und den exzentrischen Maler Max Ernst, der seine Werke in den Bäumen vor der Villa Air Bel zur Schau stellte.
„Marseille 1940“ ist ein Lehrstück über die große Kraft der Solidarität zwischen Menschen und Völkern. Mit großem Mut stellten sich einzelne gegen das Monstrum aus totalitärer Politik, Bürokratie und Verbrechertum – ein historischer Thriller, den man gar nicht aus der Hand legen mag. Das Bodenheimer Publikum war jedenfalls begeistert.
Sabine Longerich
Buchtipp:
Uwe Wittstock: Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur (C. H. Beck, ISBN 9783406814907)