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Der zu kleine Briefkasten Ein Hoch auf die Werbung

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Die "Wochenlektüre" Foto: Klaus Schmitt

Irgendwo in Rheinhessen – An einem beschaulichen, wohltemperierten Samstagmorgen im Spät-Juni macht sich der Hausherr gegen 7.10 Uhr wohlgemut und fröhlichen Herzens beim Zwitschern der Vöglein auf seinen in Jahrzehnten angewohnten und geliebten Gang zum Briefkasten. Seine Vorfreude gilt der vertrauten Tageszeitung und das mit Liebe und Sorgfalt folgende Frühstück. Der Gedanke an einen frischen, heißen Kaffee und ein Wurstbrötchen lässt ihn ein kleines Liedlein aus seiner Musik-Vergangenheit (Sechzigerjahre) summen. Es ähnelt dem Super-Hit „Help“ der Beatles. Die blecherne Tür des schmucken Kastens klemmt ein wenig beim Öffnungsversuch. Dazu braucht er schon etwas Gewalt, was seine innere Zufriedenheit und seine hervorragende Laune aber kaum stört. Er muss lediglich darauf achten, dass ihm das filigrane Schlüsselchen nicht abbricht. Das hätte gerade noch gefehlt! Dann wäre die frühmorgendliche Hochstimmung des Seniors in eine mittelschwere Depression umgeschlagen und ein für ihn schlechter Tag würde folgen. Aber der Briefkasten hat ein Einsehen und lässt sich, zwar widerwillig, aber dennoch öffnen. Was dann jedoch passiert, lässt den Senior erstarren: Der Kasten ist erbarmungslos vollgestopft mit buntem Papier jeglicher Art. Nur mit einfacher körperlicher Gewalt und der altersgemäß verbliebenen Kraft gelingt es dem Oldie und ehemals fröhlichen Mann stöhnend das Briefkastenfach zu leeren. Mit elementarer Wucht kommt ein schier unübersehbarer Wulst aus Reklameprospekten und der geliebten AZ zum Vorschein. Das schreckliche Horror-Gebilde segelt in hohem Bogen mit einem weithin hörbaren, explosionsartigen „Plumps“ auf den  nicht schallreduzierten Betonboden. Einige Nachbarn öffnen die Rollos ihrer Schlafzimmer und geben dabei unschöne Statements ab: „Moins um zeh nooch sibbe machste so en Krach! Biste verrickt?“ Das Ungemach der sonst freundlichen Nachbarn und die Aussicht, den im weiten Umkreis weitverbreiteten Müll nun aufheben zu müssen, erwecken in dem freundlichen Rentner stärkste Bedenken, dies zu bewerkstelligen. Hat er doch erst kürzlich eine neue Hüftprothese eingepflanzt bekommen. Seine Frau darum zu bitten, bei der Einsammel-Aktion zu helfen, kommt für einen Gentleman nicht in Frage! Laut stöhnend (was wiederum die nun wachen Nachbarn stört) macht er sich halb stehend, halb liegend daran, die Katastrophe zu beseitigen. Er sammelt alles mühsam aber ordentlich ein und wirft die ganze Charge in die glücklicherweise frisch geleerte Papiertonne. Als er ins Haus eintritt, genießt die Gattin bereits das zweite Marmeladebrötchen und fragt ungeduldig: “Wo warst du denn so lange?“ Er reißt sich zusammen und sinnt auf eine coole Antwort. Nach dem ersten Schluck seines mittlerweile eklig kalten Kaffees entringt ihm ein: “Ich hab die Zeitung geholt!“ – „So, und wo ist sie denn?“ fragt die Göttergattin. Schwer und mit letzter Kraft geht ihm die Antwort über die Lippen: “Ich glaub, in de Papiertonn‘!“

Klaus Schmitt