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Der lange Schatten der Pogromnacht Ergreifendes Gedenken in der Neuen Synagoge von Mainz

Malu Dreyer, Anna Kischner und Nino Haase entzünden Kerzen auf den Säulenresten der zerstörten ehemaligen Synagoge. Foto: Kristina Schäfer

MAINZ – Das Leiden der Opfer der Novemberpogrome aus der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und die Angst der jüdischen Bevölkerung von Mainz um ihr Dasein angesichts des wiederaufflammenden Antisemitismus standen im Mittelpunkt der Reden beim Gedenkakt in der Neuen Synagoge in Mainz.

Ministerpräsidentin Malu Dreyer, Oberbürgermeister Nino Haase und die Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde Mainz-Rheinhessen, Anna Kischner, haben mit dem Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky am 85. Jahrestag der Pogrome, der Opfer gedacht.

Vom dunklen und langen Schatten der Pogromnacht, sprach Ministerpräsidentin Malu Dreyer, an den der grauenhafte Terrorakt der Hamas vom 7. Oktober 2023 in einer ganz schrecklichen Art verweist.  Seit der Schoah seien nie so viele Jüdinnen und Juden an einem Tag getötet worden, zitierte Dreyer den israelischen Präsidenten Isaac Herzog.

„Meine Fassungslosigkeit, Trauer und Schmerz über das Ausmaß der Barbarei sind groß. Auch wir, die wir für ein gemeinschaftliches Rheinland-Pfalz stehen, stellen uns die Frage, was ist eigentlich in Deutschland geschehen, dass der Antisemitismus wieder aufblüht.“ Wer die barbarischen Taten zum legitimen Widerstand erkläre, „verkehrt Täter und Opfer und folgt dem Kalkül der Terroristen“, so Dreyer. Der Angriff auf Juden und Jüdinnen sei unverzeihlich.

„Wir werden diejenigen, die diese bestialische Gewalt verherrlichen und öffentlich das Existenzrecht Israels bestreiten, mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgen.“ Es sei ein Trauma, wenn Jüdinnen und Juden berichten, „dass sie in unserem Land nicht mehr angstfrei leben können“. Die Ministerpräsidentin appellierte daran, die Stimme der Demokratie zu stärken.

Das Vertrauen, dass die Jüdinnen und Juden Deutschland geschenkt haben, „dürfen wir nicht verspielen“, sagte Oberbürgermeister Nino Haase. Seit Jahrzehnten erinnere der Gedenktag an die Verpflichtung. „Nie wieder dürfen die Jüdinnen und Juden die Gefühle dieses Tages in Deutschland spüren müssen: die Angst, die Ohnmacht und die Alleingelassenheit.“ Um so betrübter sei er, da dies in diesen Tagen auch in Mainz wieder spürbar werde.

„Wie unerträglich ist der Gedanke, dass vor dem Mainzer Stadthaus im Jahr 2023 die Israel-Flagge abgerissen und verbrannt wird?“ Es gebe kein „Ja, aber“ bei der Verurteilung von Terrorakten, dem Existenzrecht Israels und der Judenfeindlichkeit. „Mitgefühl für alle leidenden Menschen darf nicht zur Relativierung der Terrorakte herangezogen werden.“

Mit ergreifenden Worten richtete sich Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Mainz-Rheinhessen Anna Kischner an die Teilnehmer der Gedenkstunde. „Ich danke allen guten Menschen, die zu uns in die Synagoge gekommen sind.“ Eigentlich habe sie beispielhaft die Ereignisse der Pogromnacht in Guntersblum schildern wollen, doch „die Gegenwart hat uns eingeholt“. „Seit dem Massaker der Hamas ist die Welt für uns Juden nicht dieselbe.“ Antisemitismus sei zurück auf deutschen Straßen. „Wir haben wieder Angst vor unserer Synagoge stehen zu bleiben, die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, besonders die Freitage sind für uns gefährlich geworden.“ Sie dankte „allen guten Menschen“, die der Jüdischen Gemeinde ihre Anteilnahme bekunden, fragte aber zugleich: Wie sollen die Jüdinnen und Juden überleben, wenn die Fahne mit dem Davidstern in Mainz die Nacht nicht übersteht oder in Nieder-Olm gar vor einer Kirche verbrannt werde. „Wann werden wir zum Güterbahnhof getrieben?“ Gelte es: Wer Fahnen verbrennt, verbrenne auch Menschen, so Kischner. „Ich frage mich jeden Tag, was noch passieren muss, damit den toleranten, wohlmeinenden Menschen die Augen geöffnet werden“.

In einem Vortrag erinnerte Miriam Kramer, die Schwiegertochter von Lotte Kramer, geborene Wertheimer, an das Leben der jüdischen Dichterin, die mit einem der letzten Kindertransporte im Sommer 1939 aus Mainz nach England fliehen konnte. Lotte Kramer feierte vor Kurzem ihren 100. Geburtstag.

Gregor Starosczyk-Gerlach