NIERSTEIN – In einer eindrucksvollen Ansprache erinnerte Hans-Peter Hexemer, Vorsitzender des Geschichtsvereins Nierstein, an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz (Oświecim, Polen) vor 80 Jahren und die bleibende Verantwortung Deutschlands. „Auschwitz steht quasi symbolisch für die entsetzlichen Verbrechen, die für immer mit dem Namen Deutschland verbunden sind“, sagte Hexemer vor den zahlreichen Gästen im Rathaus in Nierstein, darunter Stadtbürgermeister Jürgen Schmidt und andere Lokalpolitiker.
Der Geschichtsverein Nierstein hatte gemeinsam mit der Stadt Nierstein aller Opfer des nationalsozialistischen Terrors gedacht. Begleitend fand eine Ausstellungseröffnung durch einen Vortrag von Renate Rosenau und Jörg Adrian statt. Rosenau, Mitglied der Arbeitsgruppe NS-Psychiatrie Alzey, und ihr Kollege vom Geschichtsverein Nierstein stellten die Ergebnisse der Nachforschungen zu den „Euthanasie“-Verbrechen vor. Zusammen beleuchteten sie beispielhaft zwei Schicksale von Opfern aus Nierstein und Schwabsburg (ein Bericht folgt).
Während der Gedenkstunde betonte Hexemer, dass das Grauen nicht in den Lagern begann, sondern in den Städten und Dörfern, oft unter den Augen der Bevölkerung. „Wo blieben die Stimmen gegen die Nürnberger Gesetze? Wo der Aufschrei bei der Reichspogromnacht?“, fragte er eindringlich. Die Gleichgültigkeit und das Wegschauen hätten die Grundlage für das nationalsozialistische Unrecht geschaffen. Dabei verwies er auf Hannah Arendts Konzept der „Banalität des Bösen“: „Es kann das Wegschauen sein, das sich nicht interessieren, das Türen schließen.“
Mit Blick auf die heutige Gesellschaft äußerte Hexemer die Sorge über den mangelnden Kenntnisstand jüngerer Generationen. „Jede zehnte junge Erwachsene in Deutschland hat noch nie von den Begriffen Holocaust oder Shoah gehört“, warnte er. Diese Unwissenheit mache anfällig für Parolen, die die Demokratie gefährden. Gleichzeitig forderte er, die Erinnerungskultur aktiv zu pflegen: „Verpasst die Chance nicht, weiterzugeben und zu erzählen, was ihr könnt.“
Der Geschichtsverein Nierstein habe bereits 55 Stolpersteine für Opfer des Nationalsozialismus verlegt, erklärte Hexemer. Dennoch mahnte er, dass die Verantwortung zur Wachsamkeit bleibt: „Wenn der Respekt vor den Menschen verloren geht, wenn der Anstand abhandenkommt, kann wieder passieren, was einst im Holocaust endete.“
Zum Abschluss seiner Rede rief der Vereinsvorsitzende dazu auf, sich aktiv für die Demokratie einzusetzen. In Zeiten zunehmender Ausgrenzung und politischer Radikalisierung müsse jeder Einzelne Haltung zeigen. Mit den Worten von Margot Friedlander, einer Holocaust-Überlebenden, sagte er: „Seid Mensch!“ Diese Botschaft sei Auftrag und Verpflichtung zugleich. „Es kommt auf den Einzelnen an, dass er diese Sprache versteht – um seines und um unser aller Willen.“
Auch Stadtbürgermeister Jochen Schmitt (FWG) schloss sich den mahnenden Gedanken an. „Die Worte machen nachdenklich. Alles, was momentan passiert, ist nicht mehr das, was wir aus unserer Jugend her kennen und wie wir erzogen worden sind“, sagte Schmidt. Er betonte die Wichtigkeit von Achtsamkeit und Menschlichkeit: „Wir haben doch gelernt, achtsam zu sein, Nächstenliebe zu zeigen, menschlich zu sein, sich zu unterhalten.“
Schmitt rief dazu auf, gegen Angst und Rauheit in der Gesellschaft aktiv zu handeln: „Die Angst dürfen wir nicht zeigen, sondern wir müssen dagegengehen, müssen aufstehen und müssen etwas tun.“ In seiner Gedenkrede gedachte er der Opfer des Nationalsozialismus, darunter jüdische Kinder, Männer und Frauen, Sinti und Roma, politische Gegner, Zwangsarbeiter sowie Menschen, die der Aktion T4 zum Opfer fielen. „Mindestens 24 Menschen aus Nierstein und Schwabsburg befanden sich während der NS-Zeit in verschiedenen psychischen Anstalten. Sechs von ihnen wurden nachweislich im Zuge der Aktion T4 in Hadamar ermordet.“
Besonders klang sein Versprechen an die Opfer: „Wir haben uns erhoben, um Ihnen zu versprechen, dass unsere ganze Kraft darin münden soll, dass solches Unrecht nie wieder vorkommt. Gedenken, Erinnern und Handeln bleiben eine dauerhafte Aufgabe. Nie wieder ist jetzt, und das meine ich ernst.“