
BRETZENHEIM – Sie ratterte 77 Jahre lang auf ihrem Schienenweg von Mainz nach Bretzenheim und war aus dem Stadtteil nicht wegzudenken. Die Straßenbahnlinie 8 prägte den Ort wie kein anderes Verkehrsmittel und wurde von vielen Bretzenheimerinnen und Bretzenheimern geliebt. Mit der Umstellung des Liniennetzes von ESWE und MVG am 28. Mai 2000 war Schluss, da die Linien 1 bis 49 Wiesbaden zugeordnet wurden. Die Linie 8 mutierte zur Linie 52. „Das wurde in Bretzenheim als starke Zäsur empfunden“, berichtete jetzt Jürgen Waloschek vom Verein der Straßenbahnfreunde Mainz. Er hielt jetzt im Auftrag des Vereins für Heimatgeschichte Bretzenheim und Zahlbach vor rund 50 Interessierten bei der AWO im Dantehaus den Vortrag „Mit der Dampf- und Straßenbahn nach Bretzenheim – ein Wagen der Linie 8“.
„Die Linie 8 ist ein Stück Lokal- und Kulturgeschichte“, betonte Waloschek. Sogar eine Verweigerungshaltung sei nach diesem Einschnitt im Jahr 2000 bei den Bretzenheimerinnen und Bretzenheimern zu erkennen gewesen. „Uns in Bretzenheim wurde die Linie 8 weggenommen – und wo ist sie gelandet? In Wiesbaden!“, witzelte Waloschek und hatte im Dantehaus die Lacher auf seiner Seite. Mit einer historischen Uniform von 1923 war er erschienen, dazu mit historischer Umhängetasche, Fahrkartenzange und einem „Galoppwechsler“ für Münzen – 10, 20 und 25 Pfennige. „Viele sind aber auch zum Hauptbahnhof gelaufen“, berichtete der Hobbyhistoriker. „Die Bretzenheimer waren ziemlich knickrig.“
Los ging alles mit der ersten Dampfbahn der Linie 8, die erstmals am 12. August 1891 vom Fischtor über die Bretzenheimer Lindenmühle bis nach Hechtsheim ratterte. Sie hatte reichlich Personal. Ein Fahrer, ein Heizer, drei Schaffner in den drei Wagen sowie ein Postbeamter waren im Einsatz. „An der Lindenmühle hat sie nur sonntags für den Wochenendausflug gehalten“, berichtete Waloschek. An der Endstation „Am Teich“ stellte ein Bahnwärter den Zug um.

1923 wurde die Linie 8 unter Strom gestellt und „die Elektrisch“ ratterte erstmals nach Bretzenheim – zur Hauptverkehrszeit alle zehn Minuten. 1950 fuhr sie erstmals zur Kostheimer Siedlung. In den 60ern bestand das Personal im Drei-Wagen-Zug aus einem Fahrer und drei Schaffnern, bevor 1968 auf einen Einmannbetrieb umgestellt wurde. „Damals gab es noch keinen Busbetrieb in Bretzenheim, die Straßenbahn war voll“, erläuterte Waloschek. Von 1963 bis 1996 ratterte die Linie 8 von der Bretzenheimer Bahnstraße bis zur Ingelheimer Aue und wieder zurück. „Keine andere Route hat länger Bestand gehabt“, betonte der Straßenbahnexperte. Auch auf die Streckenführung entlang der Zaybach ging der Straßenbahnexperte ein und stand im Anschluss an den eineinhalbstündigen Vortrag noch für Fragen zur Verfügung.

Jürgen Waloschek war rund 20 Jahre lang 2. Vorsitzender der Straßenbahnfreunde Mainz. Er ist Archivar und Redakteur der Zeitung „Die Elektrisch“. Der Verein der Straßenbahnfreunde Mainz ist 30 Jahre alt und hat derzeit 95 Mitglieder. Er bietet Vorträge und Exkursionen an. Der Vereinsraum und das kleine Museum befinden sich bei der MVG am Straßenbahndepot. Der Verein bereitet gerade ein Buch „Straßenbahngeschichten“ vor, das vor Weihnachten erscheinen soll. Auch eine dritte Ausstellung ist derzeit in Vorbereitung.
Oliver Gehrig