ALTSTADT – Zum ersten Mal in seiner langen Geschichte diente der Mainzer Dom als Schauplatz einer nicht-kirchlichen Lesung: Bernhard Schlink las vor rund 600 Zuhörerinnen und Zuhörern aus seinem 2023 erschienenen Werk „Das späte Leben“. Schon vor dem Einlass bildete sich eine lange Schlange auf dem Marktplatz.
Der Mainzer Dom erstrahlte in einer fast mystischen Atmosphäre. Hohe gotische Bögen und gedämpftes Licht schufen eine andächtige Stimmung. Während der Lesung herrschte konzentrierte Stille, die sich mit jedem Satz, den der Schriftsteller vortrug, verdichtete. In „Das späte Leben“ setzt er sich mit den Themen Alter, Vergänglichkeit und unerwarteten Wendungen auseinander.
Schlink, 80 Jahre alt, aufgewachsen in einem evangelischen Elternhaus, ist Jurist und lebt in Berlin und New York. Sein Roman „Der Vorleser“ aus dem Jahr 1995 machte ihn weltbekannt. Der Bestseller wurde in über 50 Sprachen übersetzt und 2009 mit Kate Winslet verfilmt. Auch Bücher wie „Die Heimkehr“ und „Sommerlügen“ zählen zu seinen bedeutenden Werken. Schlink widmet sich darin häufig Themen wie Schuld und moralische Dilemmata.
In „Das späte Leben“ erfährt Martin, dass er nur wenige Monate zu leben hat. Was bleibt ihm in der restlichen Zeit? Wen möchte er noch einmal sehen, was erleben? Und wie bereitet man sich auf den Abschied vor? Der Protagonist ist 76 und glücklich. Seine junge Frau ist als Malerin erfolgreich. Er schreibt, kümmert sich um den gemeinsamen sechsjährigen Sohn David, um Küche und Garten. Mit der Nachricht gerät sein Leben aus den Fugen. Er möchte für die Zukunft seiner Lieben sorgen. Doch was kann, was darf er ihnen mitgeben? Er muss lernen loszulassen – um ihretwillen und um seinetwillen. Und er muss sich letzten – bösen – Überraschungen und Herausforderungen stellen, wenn es ihm gelingen soll, versöhnt zu sterben.
Die Lesung wurde von einer Fragerunde unterbrochen, die Schlink bereitwillig annahm. Besonders die Fragen der anwesenden Schüler machten ihm sichtlich Freude. Auf die Erkundigung: „Welchen Lebensratschlag geben Sie der Generation Z mit?“, antwortete er ausführlich. Auch auf die Frage, wie wichtig die Interpretation eines Werkes für den Autor sei, schmunzelte Schlink und erklärte, dass er Deutungen seiner Texte für überflüssig halte: „Ich schreibe nicht in Metaphern, höchstens zufällig.“ Einige Besucherinnen interessierte seine Sicht auf den Tod und seine Beziehung zu Gott. Schlink antwortete offen: „Natürlich beschäftigt mich der Tod mehr, seit ich älter bin. Aber er macht mir keine Angst.“ Auf die Frage nach Gott entgegnete er trocken: „Gott und ich sind uns noch nicht begegnet“, was für Heiterkeit im Dom sorgte.
Die fast zweistündige Lesung war Teil der Reihe „Lesungen in unseren schönsten Kirchen“, organisiert vom Landkreis Mainz-Bingen, dem Ingelheimer Leinpfad-Verlag und Friederike Gemünden von literaturfreunde.de. Dompropst Henning Priesel hatte den Dom als Veranstaltungsort vorgeschlagen, der als eine der schönsten Kirchen der Region gilt. Die Bedeutung kultureller Veranstaltungen in historischen Räumen hob Landrätin Dorothea Schäfer hervor. Musikalisch begleitet wurde der Abend, von dem das Auditorium Schlinks Gedanken zu den großen Lebensthemen wie Liebe, Vergänglichkeit, Sterben und Tod mit nach Hause nahmen, vom Mainzer Domorganisten Daniel Beckmann.