
MAINZ – Der Essenheimer Andreas Wagner vereint gleich drei Berufe in einer Person: Er ist Winzer, Historiker und Krimi-Autor in einem. Jedenfalls bisher, denn nun überrascht er seine Leserinnen und Leser mit einem radikalen Genrewechsel. Nach zwanzig erfolgreich veröffentlichten Kriminalromanen widmet er sich mit seinem ersten Sachbuch „Zwischen Reben und Rüben“ der Geschichte seiner Familie über fünf Generationen hinweg. Veranstalterin der Lesung war kürzlich die Regionalbibliothek für Mainz und Rheinhessen als Teil der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek. Dr. Stephan Fliedner, Leiter des Amts für Kultur und Bibliotheken, durfte bei der Buch-Premiere mehr als 90 Kulturinteressierte in seinen Räumen begrüßen. Es war dann auch ein Leichtes für ihn, den Bogen vom tief in Rheinhessen verwurzelten Historiker und Winzer zum Veranstaltungsort zu schlagen. „Passender geht es wohl kaum,“ so Fliedners Resümee.
Wagner selbst zog sein Publikum während der Lesung auf gewohnt charmante und unterhaltsame Weise in seinen Bann. Ob Krimi oder Sachbuch – seine Themen und die Art seines Vortrags begeistern die Menschen gleichermaßen. Die Stimmung in der Bibliothek war von Beginn an aufgeräumt, denn der Winzer versorgte das gespannte Publikum zunächst höchstpersönlich zusammen mit seiner Frau Nina mit Weinen des Weinguts, jeweils passend zum präsentierten Kapitel. Auf diese Weise transportiert der Autor bei seinen Auftritten stets auch die Wein-kulturellen Hintergründe der Region.
Wagner führte zu Beginn der Lesung kurz aus, warum und wie er mit diesem historisch fundierten Werk einen Blick in 450 Jahre Familiengeschichte wagt. Das Buch sei dabei weit mehr als eine nüchterne Chronik: Es sei ein persönliches Porträt, in dem die Leidenschaft für den Weinbau und die Wurzeln seiner Familie miteinander verknüpft werden. Der Autor betonte auch, dass er bewusst Abstand vom Krimigenre nehme, um sich neuen Herausforderungen zu stellen und andere Facetten seines Schaffens zu erkunden. „Zwischen Reben und Rüben“ zeigt denn auch eindrücklich, wie sich historische Fakten mit persönlichen Erlebnissen verbinden lassen und den Leser so auf eine Reise durch mehrere Jahrhunderte entführen – von den bescheidenen Anfängen bis hin zu den modernen Herausforderungen der Weinwelt und der landwirtschaftlichen Betriebe.
So beschreibt der erste Teil des Abends – begleitet von einem leichten, trockenen Silvaner – die Entdeckung von zwölf Kisten voller Dokumente auf dem Dachboden des Weinguts, das sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Hauptstraße 30 in Essenheim befindet. Er, der Historiker, sei von den Eltern gebeten worden, „sich mal darum zu kümmern“. Es dauerte nicht lange, bis Wagner in den Aufzeichnungen seines Urgroßvaters Jean die Beschreibungen mehrerer „grauslicher Todesfälle in Essenheim“ fand. „Die Neigung zu Mord- und Totschlag scheint bei mir in den Genen zu liegen,“ sinnierte der Schriftsteller in diesem Zusammenhang. Dazu kam seine Neugier, warum die Großeltern bei manchen Fragen so merkwürdig zurückhaltend reagiert hatten. Seine Recherchen zeigten, dass Kriegsnarben, Verdrängung und Schuldkomplexe wohl ursächlich dafür waren. Vieles davon führten die Dokumente auf dem Dachboden zutage.
Mit einer trockenen Scheurebe im Glas konnte man sich danach den humorvolleren Seiten der Chronik widmen: wie wichtig das richtige Heiraten noch fast bis in die 1970er Jahre für bäuerliche Betriebe gewesen sei. Der Erhalt von Grund und Äckern wurde allen anderen Belangen übergeordnet. Wenn dann auch noch Zuneigung im Spiel war, umso besser. Urgroßvater Jean hatte sich und seine Kinder gut verheiratet, so dass der Betrieb immer in der Familie bleiben konnte. Andere heiratswillige Bauern hatten weniger Glück: Für sie zog oft der Viehhändler die richtigen Fäden im Dorf oder außerhalb. Ob Rind oder Bauer – er brachte alles an den Mann, beziehungsweise die Frau.
Mit einer fruchtigen Riesling-Auslese und in bester Stimmung entführte Wagner sein Publikum sodann in die Zeit des Strukturwandels in der Landwirtschaft. Er machte deutlich, dass dabei nicht immer „die Großen die Kleinen“ verdrängt hätten: „Für unser Weingut bedeutete Strukturwandel schon sehr früh: weg vom Vieh, hin zu mehr Acker- und Weinbau. Die Spezialisierung auf den Weinbau hieß für uns: weniger Arbeit und mehr finanzieller Ertrag.“ Es sei nämlich immer der Wein gewesen, der zu Wohlstand geführt habe. Auch, wenn es in alten Zeiten nur „Roten oder Weißen“ gegeben habe. Das dörfliche Sozialgefüge wurde jetzt durchlässiger, laut Wagner hat es sich in Essenheim inzwischen komplett verwandelt. „Mit der Flurbereinigung, größeren und zusammenhängenden Parzellen und dem damit verbundenen Wegebau kam die Mechanisierung im Weinbau an. Unser erster Schlepper stand 1975 im Hof, was massive Umbaumaßnahmen zur Folge hatte.“ Und was Ärger zwischen Großvater und seinem Nachfolger bedeutete. Zuvor war Vater Rudolf mit dem Pferd in den Weinbergen aktiv gewesen.
Heute, so Wagner, seien Gebäude und Hof in der Hauptstraße 30 überschaubar, sauber und aufgeräumt. Alles sei geordnet, jetzt auch der Dachboden, nachdem 450 Jahre familiärer Geschichte ebenfalls bearbeitet worden seien. Wo früher Ställe standen, befinden sich nun Kelterhaus und Vinothek. Und immer noch ist das Bio-zertifizierte Weingut ein Familienbetrieb: Eltern, Ehefrau Nina und zwei Brüder kümmern sich zusammen mit Andreas Wagner darum, „dass alles läuft“ – Weinbau und Krimis.
Die Bibliothek und ihre Mitarbeiter zeigten sich einmal mehr als vollendete Gastgeber für eine Buch-Premiere, die das Publikum sichtlich begeisterte. Wagner kann auch Sachbuch – eine ganz neue und gute Erfahrung.
Andreas Wagner: „Zwischen Reben und Rüben“, Wallstein Verlag