Frage: Im kommenden Jahr wird die Verbandsgemeinde (VG) Rhein-Selz ihren zehnjährigen Fusionsgeburtstag begehen. Wie sehen Sie rückblickend die Entwicklung?
Martin Groth: Wenn man den Hintergrund der Zwangsfusion betrachtet, dann war das keine Liebesheirat. So etwas hinterlässt tiefe Wunden, die sich nur langsam schließen. Es wird wahrscheinlich eine ganze Generation brauchen, um vollends zu einer Einheit zusammenzuwachsen. Insgesamt sind wir auf einem guten Weg, die Fusion zu verdauen, Brücken zu bauen.
Frage: Wie steht die VG heute finanziell da?
Martin Groth: Die VG als separates Gebilde zu betrachten ist zu kurz gesprungen. Wenn ich auf die Ortsgemeinden und Städte schaue, ergibt sich ein recht düsteres Bild. Über die letzten Jahrzehnte waren die Ortschaften gezwungen, ihr Tafelsilber abzustoßen. Der Gestaltungsraum ist sehr limitiert. Die Fragen, die uns bewegen: Wo können wir einsparen, wo zusätzliche Einnahmen generieren? Auf Ebene der Verbandsgemeinde haben wir deutliches Verbesserungspotenzial, uns effizienter aufzustellen. Einnahmenquellen sehe ich durch die Gründung der Anstalt öffentlichen Rechts.
Frage: Sie sind in der Sandwich-Lage zwischen Mainz im Norden, Worms im Süden und der Metropolregion FrankfurtRheinMain im Osten. Wie kann die VG sich da behaupten?
Martin Groth: Ich sehe nicht den Druck, dass wir uns hier behaupten müssen. Jemand, der gerne in der Stadt Mainz lebt und arbeitet, tut das mit genauso viel Überzeugung wie jemand, der in der VG Rhein-Selz lebt. Wir haben diese unglaublich schöne Landschaft. Das 49-Euro-Ticket wirkt sich positiv aus. Allerdings: Es gibt viele junge Menschen in der VG, die berufliche Perspektiven haben wollen. In dieser Sache tun uns die Ballungszentren schon weh.
Frage: Seit rund einem Jahr sind Sie nun Bürgermeister der Verbandsgemeinde. Was haben Sie bewegen können? Wie können Sie Ihre frühere berufliche Erfahrung in Ihrem Amt umsetzen.
Martin Groth: Als Unternehmens- und Organisationsberater habe ich es verinnerlicht, zu vernetzen, zu kombinieren, kreative Wege zu finden, unkonventionelle Lösungen zu entwickeln. Und das versuche ich anzuwenden. Ein Beispiel: Zurzeit planen wir ein sehr nachhaltiges Hallenbad. Wir wollen dort übers Jahr gesehen mehr Energie erzeugen als wir verbrauchen und über die gesamte Lebenszeit signifikante Einsparungen in den Betriebskosten haben. Aber natürlich ist es bei mir auch ein Lernprozess, bei dem ich mich manchmal wie Stings Englishman in New York fühle.
Frage: Was sind aktuell die größten Herausforderungen in Bezug auf die Wirtschaft?
Martin Groth: Wir haben viele erfolgreiche Unternehmen. Ich sehe aber auch, dass es schwierig ist, hier zu expandieren. Unsere regional gute Lage müssen wir mit guten Konzepten nutzen, um jungen Menschen eine berufliche Zukunft zu geben. Ein Standortvorteil könnte ein nachhaltiges Gewerbegebiet sein. Dafür können wir viel grüne Energie zur Verfügung stellen.
Frage: Was sind die aktuell größten gesellschaftlichen Herausforderungen?
Martin Groth: Das Leben im Alter auf dem Land ist eine große Herausforderung. Hier begegne ich vielen Ängsten in der Bevölkerung. Arbeitsmarkttechnisch gehen die Babyboomer in Rente. Wir können nicht davon ausgehen, dass die freien Stellen besetzt werden. Ich glaube, viele haben das noch nicht verinnerlicht.
Frage: Wo wird die VG 2033 stehen?
Martin Groth: Im Jahr 2033 wird die Verbandsgemeinde klimaneutral sein. Wir haben keine Wahl. Wir werden viel daran arbeiten, um behutsam die Klimaneutralität voranzubringen. Der Rhein-Selz-Park Nierstein wird fertig entwickelt sein. Jugendliche werden nicht mehr wegziehen müssen, wenn sie Arbeit suchen. Und wir werden gute Mobilitätsangebote haben für junge und alte Menschen.
Das Interview führte
Susanne Theisen-Canibol