MAINZ – „Deutschland steht auf der Kippe“: Diesem Leitsatz ordnete der Parteivorsitzende der Freien Demokratischen Partei (FDP) und ehemalige Bundesfinanzminister, Christian Lindner, an diesem Abend in Mainz alle seine Top-Themen unter. Mit Hinweis auf den aktuellen Anschlag in Aschaffenburg leitete er gleich zu Beginn seiner mehr als einstündigen Rede auf eine der wichtigsten Forderungen der FDP über: Die künftige Bundesregierung müsse die Sicherheit für unser aller Freiheit gewährleisten. Anschläge wie in Aschaffenburg, Magdeburg oder Solingen müssten um jeden Preis verhindert werden.
Es brauche einen Kurswechsel in der Einwanderungspolitik. Dazu gehöre der Schutz der europäischen Außengrenzen genauso wie die Verhandlung beispielsweise mit den Machthabern in Afghanistan und Syrien: Die Länder müssten Verantwortung übernehmen, indem sie ihre Staatsbürger zurücknehmen. Dann könnten sie auch weiter mit finanziellen Unterstützungen rechnen. Ausländischen Fachkräften sei es in Deutschland zu schwer gemacht worden, Schutzsuchenden dagegen zu einfach. Dieses System muss nach Lindners Auffassung umgekehrt werden.
Bevor Lindner die Bühne betrat, stimmten die Bundestags-Spitzenkandidatin, Carina Konrad, und David Dietz, finanzpolitischer Sprecher der Mainzer FDP-Fraktion und Bewerber auf Listenplatz 2, die Anwesenden auf die Wahlkampfforderungen der FDP ein. „Eine echte Reformagenda, eine echte Wirtschaftswende, belastbare Sozialversicherungssysteme, wirtschaftliche und individuelle Freiheit gibt es nur mit der FDP“, rief Dietz den rund 600 Anwesenden zu, ohne konkrete Maßnahmen zu nennen.
Carina Konrad, gleichzeitig Landwirtin, Agraringenieurin und Politikerin, wurde in ihrer Rede eindeutiger: „Das Bundesumweltamt kann weg!“, so einer ihrer Appelle, denn das Amt blockiere nach ihrer Auffassung echten Umweltschutz aus ideologischen Gründen und damit den Wohlstand aller. Als Vorsitzende der Mainzer FDP-Fraktion begrüßte Susanne Glahn danach neben Wirtschaftsministerin Daniela Schmitt und Justizminister Herbert Mertin, beide FDP, auch Dr. Hans Friderichs, Urgestein der Partei und in den siebziger Jahren deren Bundeswirtschaftsminister.
Christian Lindner kam leicht verspätet und mit Schal wegen seiner leicht angeschlagenen Stimme. Schuld daran seien die vielen lautstarken Diskussionen mit verschiedenen Gruppierungen gewesen, die bei seinen Wahlkampfterminen gegen ihn demonstriert hätten. Lindner, scheinbar dennoch bester Stimmung, nahm zu Beginn Bezug auf den Schaumtortenwurf einer Lokalpolitikerin in Greifswald und forderte das Publikum auf, damit direkt loszulegen, falls dies auch in Mainz geplant sei. Lindner dazu: „Dann habe ich das hinter mir und wir können zur Sache kommen.“
Seit dem Bruch der Ampelkoalition im November 2024 steht Lindner verstärkt im politischen Fokus. Die ehemaligen Koalitionspartner warfen der FDP und insbesondere Lindner vor, durch eine zunehmende Blockadehaltung gegenüber SPD und Grünen den Zusammenbruch der Ampelkoalition provoziert zu haben. Kritiker und Kommentatoren argumentieren, die FDP habe sich von Beginn an schwergetan, ihre Positionen in der Koalition durchzusetzen, insbesondere in der Wirtschafts- und Finanzpolitik.
Die FDP befindet sich seitdem in einer Neuorientierungsphase und setzt vermehrt auf wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Themen, um Vertrauen zurückzugewinnen. Fünf Themenschwerpunkte stellen deshalb das Gerüst des Wahlkampfs: „Freiheit für Sicherheit“ (Stärkung der Sicherheitsbehörden sowie Begrenzung von Migration) , „Leistung muss sich lohnen“ (mehr Netto vom Brutto), „Wachstum nützt allen“ (eine starke Wirtschaft schafft gute Jobs), „Aufstieg durch Bildung“ (Erfolgschancen für alle) und „Ein schlanker Staat“ (schnelle und bürgerorientierte Erledigung von Aufgaben).
„Deutschland steht auf der Kippe“, warnte der Wahlkämpfer dann auch immer wieder, wenn er sich dem nächsten Thema zuwandte. Seine Rede würzte er stets mit zahlreichen Seitenhieben gegen seine ehemaligen Koalitionspartner. Lindner warnte das Auswärtige Amt davor, „es sich mit der USA zu verderben“, man solle nicht alles wörtlich nehmen, was Trump verlautbaren ließe. Wichtig sei vielmehr der enge Schulterschluss der Europäischen Union (EU) mit den USA als gemeinsame Kraft gegen China. Hier sei ein Neuanfang nötig in den Beziehungen zur USA. Die EU müsse gestärkt werden („Jetzt erst recht“) und dürfe sich nicht auseinander dividieren lassen.
Innenpolitisch seien die Sozialversicherungssysteme zu optimieren, wobei die Wahlfreiheit im Gesundheitssystem – zwischen privaten und gesetzlichen Kassen sowie zwischen Ärzten – unbedingt erhalten bleiben müsse. Wahlfreiheit gewährleistet nach Auffassung der FDP auch die Qualität in der medizinischen Versorgung. Weitere Wahlkampf-Versprechen der FDP umfassen unter anderem einen um mindestens 1.000 Euro höheren Steuer-Grundfreibetrag, der besonders Menschen mit sehr niedrigen Einkommen zugute kommen soll, sowie eine Senkung der Unternehmenssteuern von rund 30 auf unter 25 Prozent. Während die Partei den Solidarzuschlag abschaffen will, soll die Schuldenbremse bestehen bleiben. Das Bürgergeld in seiner jetzigen Form soll abgeschafft werden. Lindner ist für eine Grundsicherung, aber er fordert: „Es muss der Grundsatz gewährleistet sein, dass wer arbeitet, immer mehr hat als derjenige, der nicht arbeitet. Wir sind ein solidarisches Land, aber Antriebslosigkeit tolerieren wir nicht.“
Um die Pläne der FDP gegen zu finanzieren, könne man einerseits den Staatsapparat mit seiner Bürokratie verschlanken, und ganze Behörden können nach Meinung der FDP sowieso aufgelöst werden. Zusätzlich gäbe es Möglichkeiten, in den Bereichen Bürgergeld, Migration sowie Klima- und Energiepolitik zweistellige Milliardensummen einzusparen. Lindner unterstrich: „Wenn man Deutschland wieder auf den Wachstumspfad bringt, stärkt das die Einnahmebasis des Staates. So kann man Bürger und Betriebe entlasten. Und das bringt wiederum mehr Wachstum.“
In Sachen Klima- und Energiepolitik griff Lindner Deutschlands Sonderweg an, bis 2045 klimaneutral sein zu wollen. Für diese viel zu schnelle Umsetzung seien enorm hohe Subventionen notwendig, und das dafür aufgewandte Geld fehle an allen anderen Stellen, zum Beispiel in der Bildung, beim Bau und für die Bundeswehr. Lindner, inzwischen ohne Schal und gut bei Stimme, beschwor sein Publikum, in Sachen Klimaschutz und Transformation nichts zu überstürzen und, vor allem, technologieoffen zu denken: „In Zeiten stagnierenden Wachstums und sinkenden Wohlstands können wir uns solche „grünen Ideologien“ nicht mehr leisten.
Auch Deutschland sollte sein Ziel für die Klimaneutralität auf das Jahr 2050 verlegen, und wir müssen vor allem viel mehr auf Wasserstoff setzen. Notfalls auf „blauen“ aus Erdgas und auf „roten“ aus Atomenergie, bis genügend „grüner“ zur Verfügung steht.“ Und da war sie dann doch noch, die Technologieoffenheit der FDP, als nicht verhandelbare Bedingung für die Transformation.
Letztendlich bediente der FDP-Vorsitzende mit seinem Auftritt vollinhaltlich den liberalen Grundgedanken seiner Partei. Dieser besteht in der Freiheit des Einzelnen, insbesondere vor staatlicher Gewalt. Der Wahlkampfauftakt in Mainz zeigte, dass die FDP nach dem Bruch der Ampelkoalition auf eine klare inhaltliche Abgrenzung von anderen Parteien und auf neue politische Akzente setzt. Lindner betonte folgerichtig, die FDP sei bereit, Verantwortung zu übernehmen, aber nur auf Grundlage ihrer Kernthemen: Wirtschaftsliberalismus, Bürgerrechte und Zukunftstechnologien.