RLP – Die Corona-Pandemie hat in Deutschland zu einer breiten Debatte um die Einschränkung von Grund- und Menschenrechten geführt. Wie selten zuvor wird die Verhältnismäßigkeit vieler der Maßnahmen, die zur Senkung von Infektionszahlen und zur Minimierung des Infektionsrisikos angeordnet werden, hinterfragt und öffentlich diskutiert. Beispiele sind u.a. die
- Beschränkung sozialer Kontakte;
- Einschränkung der Bewegungsfreiheit;
- Besuchsverbote in Pflegeheimen;
- Einschränkung der Berufsfreiheit durch Schließung von Gastronomie und Kulturbetrieben;
- Einschränkung des Zugangs zu Bildungsinstitutionen
Viele dieser und weitere Einschränkungen von Grund- und Menschenrechten treffen Geflüchtete,
Schutzsuchende und geduldete Personen in Deutschland, Europa und der Welt – unabhängig von
einer Pandemie – jeden Tag. Sie treffen sie, ohne dass die Legitimität des Zwecks der Einschränkungen, ihre Geeignetheit und ihre Angemessenheit in Frage gestellt werden würden.
Zum Tag der Menschenrechte erinnern der Initiativausschuss für Migrationspolitik in RLP, der AK
Asyl – Flüchtlingsrat RLP e.V. und Aktiv für Flüchtlinge RLP daran, dass auch Menschen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte Träger*innen von Grund- und Menschenrechten sind – und zwar unabhängig von ihrem aufenthaltsrechtlichen Status. Die aktuelle Debatte blendet das nahezu vollständig aus:
- In Sammelunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen sind Bewohner*innen aufgrund der
dortigen Lebensumstände einem dreifach erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. Das Robert-Koch-Institut sieht in Sammelunterkünften für Flüchtlinge folgerichtig eine der „Ursachen für den starken Anstieg“ der Infektionszahlen. - Ausbrüche in Flüchtlingsunterkünften führen immer wieder dazu, dass ganze Einrichtungen
und hunderte nicht-infizierte Bewohner*innen unter Quarantäne gestellt und in den Unterkünften festgesetzt werden. In Rheinland-Pfalz standen zuletzt die Erstaufnahmeeinrichtung in Hermeskeil und ihre fast 700 Bewohner*innen unter Quarantäne. - Mitten in der Pandemie werden Menschen durch Abschiebungen in vom Robert-Koch-Institut ausgewiesene Risikogebiete gefährdet. Die Bundesregierung bemüht sich sogar um Abschiebungen nach Afghanistan, wo derzeit nach Schätzungen der afghanischen Regierung etwa ein Drittel der Bevölkerung infiziert und direkt von der Pandemie betroffen ist.
- In den griechischen Lagern müssen auch nach dem Brand von Moria tausende Flüchtlinge
weiterhin in menschenunwürdigen Bedingungen ausharren und sind weitgehend schutzlos
Wind, Wetter und dem Winter sowie massiven Infektionsrisiken bei kaum vorhandener medizinischer Versorgung ausgeliefert. Ähnlich gestaltet sich die Situation in Erstzufluchtsstaaten wie Libyen und dem Libanon sowie auf den Kanarischen Inseln und auf der Balkan-Route.
Wir begrüßen sehr, dass der Landtag Rheinland-Pfalz eine „Enquete-Kommission Corona-Pandemie“ eingerichtet hat, die sich in den letzten Monaten mit dem Pandemiegeschehen im Land und mit den zur Eindämmung ergriffenen Maßnahmen auseinandergesetzt hat. Gleichzeitig bedauern und kritisieren wir, dass die besonders prekäre Situation von Flüchtlingen, Schutzsuchenden und geduldeten Personen in dem Bericht der Kommission mit keinem Wort erwähnt wird.
Die menschenrechtlich gebotenen Konsequenzen einer inklusiven Debatte vor dem Hintergrund
der Pandemie sind keine utopischen Forderungen, sondern wären im Rahmen des geltenden
Rechts sofort umsetzbar:
- Mindestens vorübergehende Evakuierung der Erstaufnahmeeinrichtungen und großen kommunalen Sammelunterkünfte und dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen, Schutzsuchenden und geduldeten Personen in derzeit nicht genutzten Hotels und Ferienwohnungen. § 49 Absatz 2 Asylgesetz gibt den Ländern die Möglichkeit, aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge die Wohnpflicht in einer Aufnahmeeinrichtung vorzeitig zu beenden.
- Aussetzung von Abschiebungen und Rückführungen während der Pandemie, zumindest in
vom Robert-Koch-Institut ausgewiesene Risikogebiete. In der ersten Welle im Frühjahr dieses Jahres war das der Fall. Es ist nicht nachvollziehbar, dass in der derzeit grassierenden zweiten Welle mit weitaus höheren Infektionszahlen nicht ebenso gehandelt wird, sondern das Leben und die Gesundheit der Betroffenen, der Bevölkerung im Herkunftsstaat sowie des Flugpersonals, weiterer Passagiere und begleitender Polizeibeamt*innen gefährdet werden. - Schaffung von sicheren und legalen Zugangswegen durch Bundes- und Landesaufnahme aus
Aufnahmestaaten an den europäischen Außengrenzen und vor den Toren Europas. Derartige
Aufnahmeprogramme sind unter Einhaltung aller Maßnahmen zum Infektionsschutz möglich, insbesondere durch Testung vor der Ausreise aus dem Aufnahmestaat und 14-tägiger Quarantäne nach Einreise in Deutschland. Sie könnten einen wesentlichen Beitrag zur menschenwürdigen Behandlung von Schutzsuchenden und zur Entlastung der Erstaufnahmestaaten innerhalb und außerhalb Europas leisten.
Eine demokratische Gesellschaft, die über Grund- und Menschenrechte diskutiert und dabei eine
Bevölkerungsgruppe nahezu vollständig ausblendet, wird ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht. Menschenrechte sind unteilbar!
Mehr Infos unter www.fluechtlingsrat-rlp.de.
Text vom Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz