
GONSENHEIM – Manchmal erfährt man Schicksale der eigenen Vorfahren ganz zufällig, ohne explizit danach zu suchen. So erging es der Gonsenheimerin Gertrude Henn, die sich ganz unbedarft mit Ahnenforschung befasste, als sie auf das Unglaubliche stieß und daraufhin ihren Wissensdrang in diese Richtung vertiefte. Der Wunsch nach Aufarbeitung, zumal ähnliche Geschichten wahrscheinlich noch in vielen Gonsenheimer Familien schlummern, brachte sie auf den Gedanken, ihre bisher erforschten Erkenntnisse an die Öffentlichkeit zu bringen. Der Heimat- und Geschichtsverein Gonsenheim bot der Sozialpädagogin hierfür nun die Bühne und der voll besetzte Barocksaal des Rathauses während ihres Vortrages zeigte, dass großes Interesse vorhanden ist.
Henn hatte zahlreiche Verzeichnisse durchgearbeitet und viele einzelne „Puzzleteilchen“ zusammengefügt. Hierbei stieß sie auf drei Familienmitglieder, die im Nationalsozialismus der Euthanasie zum Opfer fielen. Auch die Tatsache, dass es ab dem Jahr 1933 rund 400.000 Zwangssterilisationen und 300.000 Morde durch Hitlers Euthanasie-Erlass gab, macht sie fassungslos.

Die Ur-Urgroßeltern der Referentin, Eva Christina Spengler und Johann August Becker, hatten sechs Kinder. Das erste Kind Anna Maria Becker wurde am 06. April 1941 nach Hadamar gebracht und am 19. Mai 1941 dort ermordet. Margaretha Katharina Martin, geborene Weiß (1914 bis 1944), lebte mit ihrer Familie in der Gonsbachstraße 6. 1936 gebar sie ihren Sohn Fritz während eines Klinikaufenthaltes im Philippshospital Goddelau. 1937 erfolgte eine Zwangssterilisation.
Ihr Sohn Fritz hatte die ersten Jahre bei seinem Vater und Großvater in Gonsenheim verbracht und wurde später aufgrund des Kriegsgeschehens in eine Heilerziehungsanstalt nach Idstein gebracht (Kalmenhof), wo ihn sein Großvater mehrfach besuchte. Noch vor seinem achten Geburtstag verstarb das Kind 1944 angeblich an einem „fieberhaften Darmkatarrh und angeborenem Schwachsinn“. Der Großvater wollte seinen Enkel nochmals im Sarg sehen. Er fand ihn blau angelaufen vor, die rechte Hand lag auf der Seite und die Finger waren gekrümmt, was keinesfalls auf einen natürlichen Tod hinweist. Die Bestattung fand ohne jegliche Ansprache statt und die Särge dienten damals nur zum Schein der Pietät und wurden anschließend weiterverwendet.
Die Schlussanmerkung der Referentin lautete: „Den Platz in der Familien- und Ortsgeschichte und den respektvollen Umgang damit kann man nur so schaffen. Die Gonsenheimer NS-Geschichte ist meines Erachtens noch nicht aufgearbeitet.“
Eine Leseempfehlung von Gertrude Henn:
„Verlegt nach Hadamar“. Historische Schriftenreihe des LWV Hessen, Band 2.
Weiterhin sucht sie für ihre noch nicht abgeschlossenen Recherchen weitere Angehörige, Zeitzeugen und Fotografien, etwa Jahrgang 1914, 1935, 1936.
Die Verlegung der Stolpersteine erfolgt am Dienstag, 20. Mai, ab 13 Uhr in der Gonsbachstraße 6.
Elke Fauck