Start Gesellschaft „Mitten in die Fresse“

„Mitten in die Fresse“

MAINZ – Wo ehemals Holzboden unter spanischen Tänzen knarrte, richtete die Schriftstellerin und Journalistin Kathrin Weßling im frisch renovierten Obergeschoss des KUZ ein „Super, und dir?“ an ihr Publikum. Gemeint war damit nicht etwa die oftmals mechanisch gewählte Antwort, die man allzugerne mal auf die Frage nach dem eigenen Wohlbefinden äußert, sondern der dritte Roman der gebürtigen Ahusenerin und Wahlberlinerin.
Ein Mikrofon und ein greller Lichtkegel markieren die schwarz-in-schwarz gehaltene Lesebühne, den Platz, an dem gleich etwas passieren wird. Mit einer gesunden Verspätung betritt die Autorin den Saal durch die Seitentür. Ohne Ankündigung. Ohne Einleitung. Nach einem verhaltenen Auftrittsbeifall formt Kathrin Weßling ein „Dankeschön“ aus ihrem rotgeschminkten Mund. Gleiches wiederholt sie nach jedem gelesenen Kapitel, das mit Applausintervallen quittiert wird.
Kurz und knapp und dann gönnt sie sich nach rasanten Leseeinheiten ihrer Buchszenen gemixt aus Wut, Verzweiflung und humorvoller Selbstironie einen Schluck aus der Bitburgerpulle, die sie zusammen mit ihrem Buch, verziert mit neonfarbenen Haftnotizen, aus dem Backstage mitgebracht hat.

Mit einem freundlichen „Fuck“ entschuldigt sie sich für das Fettnäpfchen, „Karneval“ statt „Fastnacht“ gesagt zu haben. Später bittet sie noch darum, ihr Buch „bitte, bitte, bitte nicht bei Amazon“, sondern in der Buchhandlung zu kaufen. „Ich hab ja noch gar nichts gemacht”, steigt sie ein und ändert dies schonungslos. Nachdem sie in wenigen Worten die Handlung umreißt, befindet man sich sofort mitten drin. Inmitten des Schmerzes und der Verzweiflung einer Figur, die stumm jammert, leise krakeelt und dem stillen Applaus von Likes und Herzchen suchtet, obwohl die Protagonistin doch offensichtlich alles zu haben scheint, wenn man den Selfies auf Facebook glauben schenken will.
Kathrin Weßling stößt den circa 80 Zuhörern mit voller Wucht und in einem rasanten Tempo aus klaren, pathosfreien, aneinandergereihten Satzinhalten, vor den Kopf: „Ich wurde verarscht, weil alle, einfach alle mir versprochen haben, dass ich nur hart genug zu mir sein muss, nur dünn, fleißig und hübsch genug, nur therapiert und reflektiert genug, nur geil und kinky genug, lieb und cool, gleichzeitig aber auch besonders, dann kriege ich, was ich will, was ich brauche, was mich weiterbringt, was wichtig für meine Persönlichkeitsentwicklung ist.“

Temperamentvoll monoton, dafür unter Mienenspiel und Handbehelf, knallt sie dem Publikum 60 Minuten-lang die geballte Ladung Lethargie und Leistungsdruck, Selbstmitleidsergüsse, wilde Aufzählungen und Schuldzuweisungen ihrer Ich-Erzählerin Marlene Beckmann, 31 Jahre, Social Media Managerin, um die Ohren und skizziert ein erschreckend-ehrliches, wenn auch überspitztes, Bild einer jungen Frau, die in einer gnadenlosen Gesellschaft aus fehlender Empathie, Egoismus und Resilienz lebt und leidet, vor allem aber weil sie unter sich selbst leidet.
Und an Drogen. „Ich habe kein Problem. Ich hab Kokain.“ Das Buch streckt den warnenden Finger aus: Drogen, Druck und Dogmen wirken (selbst-)zerstörerisch und lassen die eigene Selbstachtung, unabhängig von Gesellschaft und System, in Frage stellen.