INGELHEIM – Ingeltopia in Ingelheim ist eine Kleinstadt in der Großstadt. In Anspielung auf den Roman „Utopia“, in dem Tomas Morus unter dem Deckmantel einer fiktiven Reise eine ideale Gesellschaft beschreibt, bauen die Kinder in Ingelheim in diesen Sommerferien eine Kleingesellschaft auf. Zum achten Mal schon bekommen sie die Gelegenheit dazu. Alle zwei Jahre schlägt Ingeltopia die Zelte in Ingelheim auf. In den Grenzen, die das Jugend- und Kulturzentrums „Yellow“ vorgibt, zeigt sich bei einem Besuch in der kleinen Polis ein funktionierendes Zusammenleben, das nicht nur ein Rathaus und einige Ämter besitzt, sondern auch über Betriebe mit Arbeitsteilung verfügt, die auf Geldwirtschaftsbasis arbeiten. Zudem bietet Ingeltopia den Bürgern und Bürgerinnen, die alle zwischen sieben und zwölf Jahren alt sind, Freizeit- und kulinarische Angebote. Über den Alltag berichten die Medien.
Im Bürgerbüro erhält der Gast die Gelegenheit zur kostenlosen Führung. Der Fremdenführer, der die Lokale begleitet, heißt Valentin. Für die Arbeitszeit wird er natürlich entlohnt. „Unsere Währung ist der Ingeltaler.“ Valentin zeigt seine Banknoten, die er mit dem Bürgerpass in einer Klarsichthülle um den Hals gehängt hat. Sein Passfoto kostete ihn zwei Ingeltaler, wofür er 24 Minuten arbeiten musste.
Die Tour führt am Arbeitsamt vorbei zur Bank. „Konten anlegen, sein Geld einzahlen und abheben“ könne man hier, erzählt er. Zehn Ingeltaler bekommt jeder Neubürger als Startgeld. Vom Stundenlohn von fünf Ingeltalern nimmt das Finanzamt einen weg.
In der Post beklebt ein Mitarbeiter Kuverts mit Marken. „Damit können Betriebe Briefe einander senden.“ Etwas, das wie jenseits von Ingeltopia nicht immer gut klappt. Schneller geht es, wenn die Unternehmen ihre Nachrichten mündlich überbringen. Das Kaufhaus unterhält die einzige Verbindung ins „Ausland“. Es nimmt Bestellungen für Waren an, die die heimischen Firmen zur Produktion brauchen. Eingekauft wird in Ingelheim in Euro und später in der Heimatwährung mit den Firmen abgerechnet.
In ihnen pulsiert indes das Leben. Die Werkstatt produziert Schwerter und Perlenketten je nach Auftrag, gut essen kann man im Café oder nach der Bestellung im Restaurant.
„Richtig reich“ wird wegen geringer Herstellungskosten und hoher Nachfrage der Stand mit „Slushy Slime“. Als Gründungsidee haben ihn sich die Kinder einfallen lassen. So wie andere die Idee für ein Kino zu hatten. Doch anders als der Getränkestand kämpfen die Betreiber ums Überleben. Zuletzt haben sie die Eintrittspreise angehoben. Fünf Ingeltaler kostet nun ein VIP-Sitz in der ersten Reihe. Vieles dreht sich ums Geld. „Wollt ihr Kino-Werbung in der Zeitung“, fragt die PR-Mitarbeiterin der Tageszeitung von Ingeltopia. „Was wird es kosten“, will der Kino-Chef wissen. Weitgehend leer bleibt der Freizeitpark. „Letztens war er fast pleite“, sagt Valentin. Die Antwort auf die Frage, warum sie sich keinen Ausflug dorthin gönnt, liefert ein Mädchen aus dem Kosmetikstudio. „Wir wollen erstmal etwas für uns machen, um Geld zu verdienen.“ Mit einer Disco will der Vergnügungspark Besucher anlocken. Das Fotostudio, die Theater- und Musikakademie, die täglich Aufführungen zeigt, haben ebenfalls alle Hände voll zu tun. In der Zeitungsredaktion und der Fernsehanstalt werden die nächsten gedruckten und gedrehten Formate vorbereitet. Schließlich stehen an dem Tag die Wahlen des Stadtbürgermeisters wahlweise der Bürgermeisterin sowie des Stadtrats an. Zudem wird der Freundschaftsbesuch des Oberbürgermeisters von Ingelheim in Ingeltopia erwartet.
Abseits der großen Politik kehrt Valentin nach der Führung gut gelaunt ins Bürgerbüro zurück. Wer weiß, vielleicht wird er den offiziellen Gast aus Ingelheim durch Ingeltopia führen.
Gregor Starosczyk-Gerlach